Wartesaal

Es war pure Dummheit, nicht mehr, nicht weniger. Eine kurze Nacht, ein müder Vater, der dennoch seine Kinder Sonntagmorgens zum Golftraining brachte. Anfangs wollte er nur in der Wiese liegen, dann fühlte er sich doch fit genug, spielte ein paar Schläge auf der Driving Range, traf die Kugel gut, alles wie immer. 

Die erste Kindereinheit war vorbei, die Tochter kam: „Ich habe Hunger!“. Pause im Golfrestaurant, Kuchen für die Tochter, Ham and Eggs für Papa. „Hol mir doch noch ein paar Bälle!“, alles wie immer.
Die Driving Range mittlerweile voll. Ein einziges Platzerl, ganz vorne rechts, neben den Abschlagmarkierungen. Es gibt da noch Gras, sehr schön eigentlich, die Abschläge sind etwas weiter vorne gesteckt, damit auch ein bisserl tiefer, und daher feuchter, fetter. 
Hinter mir steht ein anderer Vater, trifft die Kugel großartig, noch besser als ich zuvor. Das will ich auch, platziere meinen Ball ca 20 cm hinter der den Abschlag markierenden Schnur. Ich schwinge auf, fühlt sich gut an, rotiere die Hüfte zuerst, das Schlägerblatt kommt herrlich von oben auf den Ball, der Ball fliegt schnurgerade weg, und ich falle vor Schmerzen um. 
Mir bleibt die Luft weg, der Schläger fällt mir aus der Hand, Ring- und kleiner Finger sind taub, mein Handgelenk fühlt sich an, als wolle es meine Hand abwerfen und mir schießen die Tränen in die Augen. Echter, harter Schmerz. Mein erster Gedanke: „Kahnbeinbruch“, aber kann das sein? 
Was war passiert? Mein Schlägerblatt hatte sich nach dem Ball unter die Grasnarbe gezogen, das Divot wurde zu lang und das Schlägerblatt verfing sich in der Schnur, die keinen cm nachgab, weil ich zu nah an der Befestigung stand, ich schlug mit mehr als 100 km/h wie gegen eine Betonmauer. 
„Kühlen“, dachte ich, ging zum Schlägerputzbecken, ließ mir kaltes Wasser über die Hand rinnen, schnappte nach Luft. Kann doch nicht wirklich sein, dass ich mir bei einem Golfschlag Knochenverletzungen zuziehe! Was ist das? Eine Prellung, eine Sehne? Knorpelabsprengungen? Ich ringe mit mir zwischen Weinen und verzweifeltem Lachen, über meine Blödheit, mein potschertes Leben, in dem ich es anscheinend einfach nicht zulassen kann, dass es mir gut geht. Dummheit, Torheit, Ungeduld.
Besorgte Mitspieler wollen mir helfen: „Kühlen! Soll ich ihnen Eis holen?“ Mein Stolz verbietet mir die Annahme, dumm, dümmer, am dümmsten. „Das ist meinem Mann passiert, 4 Wochen Pause.“ Genau das will ich hören. Vor mir noch drei Tage harte Arbeit, danach möchte ich bitte meine derzeitige Golf-Hochform nützen, Turniere spielen, Forderungen. Die Finger immer noch taub. Lass es bitte nur eine Prellung sein! Besagter Ehegatte taucht auf, zeigt mir seine nach 4 Wochen immer noch geschwollenen Finger. „Das hat auch Vorteile! Jeder schlecht getroffene Ball schmerzt so, dass ich mich noch mehr zusammenreiße, um den Ball zu treffen.“

Der Mann spielt Seniorenschäfte, ich fange wieder an zu weinen, die Saison ist vorbei.
Im Restaurant bekomme ich eine Flaschenkühlmanschette, ich stülpe sie übers Gelenk, wow, kalt, richtig kalt, gut!

Mir friert das Wasser auf der Haut, aber es lindert den Schmerz. „Danke.“ „Wir können sie später tauschen, ich hab noch welche.“ „Danke.“ 
Ich lege mich ins Gras, warte das Ende des Kindertrainings ab. Räume die Schläger ins Auto, schnalle meine Tochter an, fahre heim. Beim dritten Schaltvorgang breche ich in Tränen aus. Da ist wohl mehr hin.
Die Kinder heim bringen, ab ins Spital, Wilhelminen, das ist das näheste. In der Unfallambulanz sitzen keine 20 Menschen, inklusive Begleitpersonen, da werde ich wohl bald drankommen.
Nach 20 Minuten steht ein Mann auf und fragt eine ältere Dame, die sich wohl den Arm gebrochen hatte, wie lange sie schon warte. „Drei Stunden.“ Ich horche auf. „Ach, nein, sind schon dreieinhalb.“
Es herrscht Handyverbot im Warteraum, eh egal, es gibt sowieso keinen Empfang. Warten ohne Internet? Das wird interessant. An der Wand hängt ein alter Röhrenfernseher, dessen verwackeltes verfärbtes Bild ATV zeigt, unten eingeblendet steht „Hochzeit“, der Untertitel ist nicht lesbar, der Ton ist ausgeschaltet. 
Es herrscht überraschende Ruhe, niemand regt sich über die Wartezeit auf. Nach 50 Minuten wurde noch keine einzige Durchsage gemacht, kein einziger Patient aufgerufen. Einige neue kommen dazu, vorwiegend Kinder, humpelnd, aber ruhig. 

Die Ruhe ist ansteckend.
Vor der Türe gibt es Getränkeautomaten. Ich sage laut zu mir: „Ha. Na wenigstens das Cola ist wohlfeil, nur 1,10.“, als ein junger Mann mir die Vorfreude gleich wieder nimmt. „Da brauchst nichts einwerfen, der Automat ist leer.“ Tatsächlich, das sind keine Reflexionen von der Sonne an diesem schwülen 30-Grad-Tag, alle Lampen leuchten: „leer!“
„im Snack-Automaten gibt es noch ein paar Red Bull, ganz unten.“ Ich habe lieber noch ein bisserl länger Durst. 
Er erzählt mir, dass er den dritten Tag hintereinander da sei, er habe einmal 8, einmal 5 Stunden gewartet, jetzt ist er seit drei Stunden da. Er hat sich schon vor 10 Tagen das Schlüsselbein gebrochen, aber es sei noch immer nicht operiert, zu wenige Ärzte, wegen dem Donauinselfest. 
Mir wird einiges klarer. 
Er komme eigentlich nur wegen Schmerzmitteln, für eine tägliche Infusion wartet er immer. Es sind eineinhalb Stunden vergangen, noch immer wurde kein einziger Patient aufgerufen.
Ich setze mich wieder in den Wartesaal, spiele Solitär am Handy, das geht auch ohne Internet.
Ein Mann rollt im Rollstuhl in den Wartesaal, er bringt Musik mit, lacht schelmisch. „Que sera, que sera, que sera…“, ein italienischer Klassiker spielt leise, aber in dieser Atmosphäre brüllt er die Wartenden regelrecht an. Der Mann grinst, doch keine 10 Sekunden später deutet ihm schon ein Mann in Leuchtjacke mit Aufschrift „Security“ die Musik abzudrehen. Er macht nur eine Handbewegung, sagt gar nichts, der Mann schaltet sein Gerät aus und rollt durch eine andere Türe wieder aus dem Saal. Auf dem Schild in der Richtung steht „Spezialambulanz.“ Ob man dort Musik hören darf?
Aus der selben Richtung dringen wieder kurze Schreie in mein Bewusstsein. Es dürfte ein Patient mit einem Tick sein, immer wieder kommen sehr ähnliche kurze leise Schreie, gefolgt von einem gurgelnden Lachen. 
Die Lautsprecheranlage ist doch nicht kaputt, überraschenderweise werden plötzlich doch Patienten aufgerufen.
Der Security taucht wieder auf, spricht einen jungen Patienten an. Er hat wohl ein Auge auf dessen Mutter geworfen. Ein nettes freundliches Gespräch, sehr sympathisch. Er endet mit der Frage, ob der Junge etwas trinken möchte. „Der Automat ist leer.“, wendet die Mutter ein. „Ich hol ihm etwas aus dem anderen Pavillon!“ Der Sicherheitsmann zieht alle Register. Ich überlege, ob ich meine Mutter anrufen soll, komme aber zum Schluss, dass sie nicht den Geschmack des freundlichen Security treffen würde.
Plötzlich werde ich aufgerufen. 3 Stunden 20. Die erste Untersuchung dauert eine Minute, ich werde durch eine andere Türe geschickt, Richtung Röntgen. Meine Augen weiten sich. Hier sind mindestens 50 Leute, auf Betten, auf Rollstühlen, auf den 2 Sesselreihen, alle warten. Ich lerne die Dame kennen, deren Geräusche mich seit Stunden begleiten. Eine ältere Dame mit Down-Syndrom. Sie scheint Witze zu machen und amüsiert sich dann immer köstlich. Ich verstehe sie nicht, aber die beiden Begleiterinnen, die der bettlägerigen Dame je eine Hand halten, lächeln verständnisvoll.
Bis auf diese gurgelnde Sprache ist es auch in diesem Raum ruhig. Aber es ist nirgends bedrückend, niemand regt sich auf, niemand zeigt Ärger, es ist friedlich, beinahe schön.
Überraschenderweise geht es sofort weiter ins Röntgen. Handgelenk, Finger, zackzack, wieder in den Wartesaal. Ich schreibe diese Geschichte. Warte schon wieder eine 3/4 Stunde.

Edit: Gelenk im Rungfinger abgesprengt. 5 Stunden 10 Minuten


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